Natürlich steigt die Anspannung schon Stunden vor dem Start am 01.09.2019 um 22.00 Uhr ins Unermessliche. Die letzten Vorbereitungen sind getroffen, das Rennrad ist gerichtet, die Bekleidung bereitgelegt – es kann losgehen! Nur vom „xirimiri“ – dem typisch baskischen Sprühregen wurde die Freude eingetrübt – es sollte auf jeden Fall ein feuchter Start werden. Nach Fotosession und Verabschiedung am Guggenheim Museum in Bilbao ging es dann an diesem Sonntagabend in die Dunkelheit und endlich auf die Strecke – zuerst neutralisiert aus Bilbao hinaus und dann ab der Stadtgrenze mit Schwung ins Renngeschehen. Über 3.500 Kilometer rund um die iberische Halbinsel, gespickt mit gut 45.000 Höhenmetern werden für die nächsten Tage auf dem Programm stehen.

Stretch 1: 01.09.19 22:00 Uhr – 03.09.19 02:00 Uhr (684km, 7.799 Höhenmeter)
Die ersten 4 Stunden führte meine Route relativ nah an der Atlantikküste entlang Richtung San Sebastian / Donostia und war entsprechend flach bis wellig. Nasskaltes Regenwetter löste den Sprühregen ab – das drückte zwar meine Stimmung ziemlich, minderte die Motivation und Leistung kaum. Nach knapp fünf Stunden im Regen trocknete es ab, ich fand gut meinen Rhythmus und pedalierte mit einem zügigen 29-30er Schnitt den Bergen entgegen. Mein Ziel: Möglichst schnell durch die Nacht, möglichst schnell über die Pyrenäen und ab in die Sonne! Nach gut 9,5 Stunden im Rennen (02.09.19, 7:30 Uhr) war ich in Arette. Hier beginnt der Parcours zum Checkpoint 1 – dem Col de la Pierre Saint Martin. Der Anstieg ist knapp 21 Kilometer lang, es gilt über 1400 Höhenmeter mit Rampen von > 15% zu erklettern. Hier wurde es zum ersten mal richtig anstregend für mich – aber auf eine ganz eigene Art und Weise genoss ist das Klettern nach den vielen flachen Kilometern auch sehr.
Kurz vor 9.30 Uhr wurde ich an der Passhöhe auf 1.760m Höhe gewertet – das Wetter neblig, nass, kalt. 2 Grad. Kein guter Ort um das Erreichen des ersten Meilensteins zu genießen – entsprechend schnell ging es in die Abfahrt, die Südflanke der Pyrenäen hinunter nach Spanien mit Kurs streng Richtung Süden.
Wie sich auf dem Weg nach Saragossa herausstellen sollte: Am Checkpoint 1 hatte ich bereits über 4 Stunden Vorsprung auf meine Verfolger herausgefahren und führte das Feld der Transibérica an. Diese Betrachtung stand für mich aber nicht im Fokus – ich konzentrierte mich mehr auf meinen eigenen Rhythmus, mein eigenes Tempo, mein eigenes (Zeit) Ziel auf meiner „Lifetime Mission“. Mein Plan sah die erste „richtige“ Pause zur Verpflegung in Saragossa vor. Nach knapp 18h im Rennen, in denen ich weniger als 45 Minuten Standzeit hatte, gab es in Saragossa eine warme Mahlzeit und die Vorräte wurden wieder aufgefüllt.
Gestärkt nahm ich Kurs auf den Checkpoint 2: den Pico de Javalambre. In der hügeligen Region vor Teruel ging es in die zweite Nacht. Ein Blick auf den Wetterbericht bestätigte, was die Blicke auf den Horizont schon erahnen ließen: es gewitterte am Javalambre. Bei dem Wetter auf den Gipfel? Nein danke. Zu nass. Zu kalt. Zu riskant. Ich entschied mich, nach über 25 Stunden im Rennen zur Schlafpause im Hinterhof des Krankenhauses von Teruel – hier war es trocken, windgeschützt und ich konnte mich nach den ersten 684 Kilometern mit 7.800 Höhenmetern ein paar Stunden im Schlafsack ausruhen.
Total Time in Race: 1d 4h 0min, Total km: 684km, Total Elevation: 7.799m
Stretch 2: 03.09.19 5:00 Uhr – 04.09.19 3:00 Uhr (508km, 5.281 Höhenmeter)
Nach 3 Stunden Schlaf auf dem harten Steinboden klingelte der Wecker. Zähne putzen, zusammenpacken, ein Blick auf den Wetterbericht – und weiter geht es. Der Plan beim Start um 5 Uhr morgens in Teruel: Zum Sonnenaufgang gegen 7.30 Uhr auf dem Javalambre stehen. Der Plan geht auf: Die steilen Rampen in der Anfahrt zum Berg bezwinge ich noch in der Dunkelheit – kurz unterhalb des Gipfels beginnt die Dämmerung. Im ersten Tageslicht nehme ich die letzten 3 Kilometer auf grobem Schotter in Angriff – hier werden all meine wenig ausgeprägten Gravel-Skills gefordert. Auf dem Gipfelplateau wartet Carlos von der Transibérica-Crew bereits, macht sensationelle Fotos und stempelt meine Brevet Card: um 7:22 Uhr nach 2d 9h 22min erreiche ich den Checkpoint 2. Kurz genieße ich das Panorama – dann geht es für mich aber auch schon weiter. Mein Traum: Der Morgen am Berg, der Abend am Meer.
So ging es hinein in die Abfahrt und weiter streng Richtung Süden. Ein wenig durchs spanische Niemandsland – immer entlang der N-330. Vorbei an Utiel auf dem Weg nach Almansa wurde es monoton – die Landschaft ist mal flach, mal hügelig, immer aber wenig besiedelt, eher ausgedörrt und ein wenig langweilig.
Die Langeweile wird am frühen Nachmittag aber jäh durchbrochen: In einem kurzen Anstieg nördlich von Almansa schraube ich mich im Wiegetritt dem Hügel hinauf und werde vom Seitenspiegel eines Autos an der Hüfte getroffen. Auch das gehört zu unserem Sport (leider) immer wieder dazu. Obwohl ich auf dem großzügig ausgebauten Randstreifen fahre touchiert mich der Fahrer. Der Sturz ist unausweichlich, ich sehe den Fahrer noch kurz bremsen – dann seine Fahrt aber ignorant fortsetzen. Der Schock sitzt zuerst einmal tief – schnell wird mir aber klar: Nichts schlimmes passiert. Und dennoch: Ganz schadlos ging die Geschichte nicht aus. Ein paar Kratzer am Knie, der Oberschenkel schmerzt, mein Lightweight-Carbon-Hinterrad hat einen Riss in der Flanke. Kann ich so weiterfahren? Ich weiß es nicht. Nach einigen Minuten probiere ich es. Es folgen schwere Stunden: Schmerzen im Bein, immer wieder kreisen meine Gedanken um die verbleibende Strecke, um den Zustand meines Materials, um ein „Do Not Finish“.
Dankbar dafür, dass mir nichts Ernsthaftes bei diesem Unfall passiert ist, entscheide ich mich, es einfach als weitere Herausforderung zu begreifen, die meinem Abenteuer hinzugefügt wurde. Und ich entscheide mich zu kämpfen, mich durchzubeißen, meine Fahrt fortzusetzen.
So geht es hinein in die nächste Nacht. Ich steuere der Küste entgegen und erfülle mir doch noch den Traum von „Morgens am Berg, Abends am Meer“. Gegen 3 Uhr finde ich in Vera Playa an der Mittelmeerküste ein Hotel mit Liegen am Strand – perfekt sogar mit weichen Auflagen. Richtig gut – ich lege meinen Schlafsack darauf und schlafe nach 2d 5h 5min mit 1.193 Kilometern im Rennen zufrieden ein.
Total Time in Race: 2d 5h 5min, Total km: 1.193, Total Elevation: 13.080m
Stretch 3: 04.09.19 5:00 Uhr – 04.09.19 19:45 Uhr (291km, 4.579 Höhenmeter)
So bequem und lau die Nacht am Strand ist – so schnell ist sie wieder vorbei. Nach nur 2 Stunden Schlaf geht es bereits weiter – der dritte Checkpoint, Cabo de Gata, will zum Sonnenaufgang erobert werden. Bis dahin sind es noch knapp 90 Kilometer an der Mittelmeerküste entlang. Auch wenn meine Oberschenkelprellung vom Unfall mich noch etwas handicapped – es geht recht gut voran und erneut geht mein Plan auf. Ich genieße einen herrlichen Sunrise auf den zerklüfteten Klippen des Nationalparks. Nach 2d 10h 26min und 1.281km habe ich auch die 10 Kilometer lange Gravelpassage des Checkpoint-Parcours hinter mir gelassen und steuere Almería an. In einem Café am Straßenrand gibt es erst einmal ein tolles Frühstück für mich: Tostadas con Queso y Jamon & Café Americano – mit Blick auf den Strand. Für eine Weile halte ich hier inne und genieße den Moment.
Nach Almería soll mich meine Route im Norden der Sierra Nevada entlang über Guadix Richtung Granada und schließlich zum Dach der Tour, dem Pico Veleta, führen. Kurz hinter Almería treffe ich völlig unerwartet auf einen Freund der Transiberíca – vom Straßenrand ruft er meinen Namen, feuert mich an, macht Fotos. Ich halte kurz an, wir unterhalten uns – ein Gänsehautmoment. Eine ungeheure Motivation durchströmt mich als ich mich in der gleisenden Mittagshitze mit Temperaturen um 35 Grad in die Anstiege der Sierra-Nevada-Ausläufer mache. Wie im Backofen klettere ich von der Küste ins Landesinnere – auch auf 1.200 Metern Höhe im Herzen der Sierra ist es nicht wirklich kühler.
Erst als ich im Tagesverlauf Guadix langsam näher komme wird es wolkiger und kühlt leicht ab – am Horizont lässt sich leider auch schon wieder erahnen, was mir der Wetterbericht bestätigt: Am Pico de Veleta auf 3.396 Metern Höhe toben heftige Gewitter. Aus der Ferne kann man die Blitze sehen – im Minutentakt schnellen sie vom Himmel zur Erde.
Neben meinem rechten Oberschenkel, der mir mit der Prellung auch 24 Stunden nach dem Unfall immer noch Schmerzen bereitet, wird das Wetter wohl der ausschlaggebende Grund sein, der meinen Angriff auf den Veleta verhindern wird. Das drückt kräftig auf meinen Stimmung und Motivation – mehr schlecht als recht quäle ich mich durch die Sierra Richtung Granada und die ersten 12 Kilometer des Veleta-Anstieges hinauf. Im Checkpoint-Hotel El Guerra quartiere ich mich zur „Zwangspause“ ein. In dem Hotel, in dem auch das World-Tour-Team Movistar und Alejandro Valverde gern ihr Quartier für Trainingslager beziehen, genieße ich gewissermaßen das erste Mal echten Luxus während der Transibérica: Eine warme Dusche, Shampoo, richtige Handtücher, eine reichliche Abendmahlzeit. Gegen 21.30 Uhr gehe ich aber auch schon früh ins Bett. Für den Aufstieg zum Veleta-Peak will ich auf besseres Wetter warten – laut Vorhersage kann ich morgen früh zum Sonnenaufgang Glück haben.
Total Time in Race: 2d 21h 45min, Total km: 1.484, Total Elevation: 17.659m
Stretch 4: 05.09.19 6:00 Uhr – 06.09.19 02:00 Uhr (380km, 6.060 Höhenmeter)
10 Stunden Pause im Hotel haben schon einiges für sich – vor dem Start zum Checkpoint 4 fühle ich mich (fast) wie neu geboren – wenn gleich mein Oberschenkel immer noch zwickt. Dennoch bin ich voller Tatendrang und Motivation: Das schlechte Wetter ist über Nacht verzogen, es ist trocken, der Himmel klar und vor dem Hotel wartet schon der Fotograf.
Noch knapp 30 Kilometer Anstieg habe ich vom Hotel bis zum Gipfel auf knapp 3.400 Metern vor mir. Nach einer Stunde klettern im Dunkeln setzt die Dämmerung ein und taucht die umliegende Landschaft in ein beeindruckendes Licht. Umso höher ich komme, umso dünner wird die Luft. Nie zuvor bin ich auf einem 3.400 Meter hohen Gipfel gewesen – weder zu Fuß, noch mit der Seilbahn, geschweige denn auf dem Rennrad. Aufregung überstrahlt die Anstrengung, während sich die ersten Sonnenstrahlen über den Horizont schieben. Um 8:04 Uhr werde ich auf dem Pico Veleta gewertet, lehne mein Rennrad an das Gipfelkreuz, setze mich davor und blicke in die Ferne. Ein unvergesslicher Moment für die Ewigkeit – ein absoluter Höhepunkt nach mittlerweile 3d 10h 37min im Rennen, 1.513 Kilometer und 19.359 Höhenmetern in den Beinen. Und trotz der ungeplant langen Pause habe ich den Kontrollpunkt mit über 28 Stunden Vorsprung auf meine direkten Verfolger passiert.
In der Abfahrt vom Veleta stoppe ich noch einmal kurz im Hotel, sammle mein restliches Gepäck ein und frühstücke, bevor es weiter geht Richtung Westen – nächster Stopp: Ronda. Die Etappe wird vergleichsweise flach, hält aber zum Beispiel am Rande der Sierra de Loja mit ihren Weinbaugebieten einige knackige Anstiege bereit, die wieder in der Mittagshitze bezwungen werden wollen. Bis zum Sonnenuntergang komme ich in Ronda an – Checkpoint 5. Für mich weit mehr als ein weiterer Stempel auf der Brevet Card, weit mehr als eine weitere Zeitnahme – für mich ist Ronda der Halfwaypoint meines Abenteuers. Mit einem Abendessen – es gibt Salat, einen Berg Pasta und ein alkoholfreies Bier – direkt an der Puente Nuevo, der berühmten Brücke von Ronda, wird das gebührend gefeiert bevor es weiter in den Parcours des Checkpoints und in die Nacht geht.
Der Parcours startet mit einer steilen Abfahrt auf grobem Kopfsteinpflaster – das in der Dunkelheit unter die Räder zu nehmen scheint jetzt mir keine clevere Idee mehr zu sein. Der Lichtkegel meiner Supernova Airstream II leuchtet das Pavés taghell aus – leichter zu fahren wird die technische Passage trotzdem nicht. Aber auch hier greift der Grundsatz „schlimmer geht immer“ – etwa ab der Hälfte ist ein großer, schwarzer Hund laut bellende hinter mir her und springt alle paar Sekunden mit weniger als einem halben Meter Abstand irgendwo neben meinem Rad umher. Angst und Panik erfassen mich – das Kopfsteinpflaster ist fast unwichtig. Sturzfrei versuche ich die Passage zu überleben während ich den Hund nonstop anbrülle – in der Hoffnung, dass er von mir ablässt. Fehlanzeige – erst am Ausgang der Pflasterabfahrt kann ich Tempo aufnehmen und erfolgreich die Flucht ergreifen. Noch während ich „alles nochmal gut gegangen“ denke, stehe ich auf einem Schotterpfad vor einem sandigen Graben, circa einen halben Meter tief. Am Nachmittag ist bei einem heftigen Regen hier wohl das Wasser entlang geschossen. Die nächste Herausforderung. Schiebend und kletternd bahne ich mir den Weg zurück Richtung Straße – und muss dann feststellen: Meine Laufräder sind komplett verschlammt. So werden in der Dunkelheit erst einmal beide Laufräder ausgebaut, die Bremsen und Flanken notdürftig vom Schlamm befreit – wie ich danach aussehe sieht man in der Dunkelheit zum Glück nicht. Und auch der Rest vom Parcours hat es mit etlichen Höhenmetern in sich: Bis auf über 1.200 Meter geht es hinauf – erst gegen 0 Uhr erreiche ich die Zeitnahme am Ende des Parcours.
Die körperlichen und mentalen Strapazen dieser Stunden seit Ronda haben mich deutlich gezeichnet – meinen ursprünglichen Plan, in dieser Nacht noch möglichst bis Sevilla zu kommen, verwerfe ich. Irgendwo im Nirgendwo an der A-375 beschließe ich mein Nachtlager aufzuschlagen. Eine alte, nicht mehr im Betrieb befindliche Tankstelle scheint mir hierfür ein guter Ort zu sein. Überdacht und beleuchtet – und sogar mit Steckdosen die noch funktionieren. Hier kann ich ein paar Stunden iPhone, Garmin, Lampen und Powerbanks aufladen. Sehr gut denke ich – und noch während ich meinen Schlafsack ausbreite bekomme ich Besuch. Die Guardia Civil. Polizeikontrolle. Einer der Beamten spricht gutes Englisch – kontrolliert mich. Soweit so gut. Das Ganze zieht sich aber über 45 Minuten, ohne dass die Beamten mir Auskunft geben ob ich hier bleiben kann, warum das Ganze usw. Am Ende durchsuchen sie mein komplettes Gepäck – warum auch immer, ich vermute: Einen ausländischen Radfahrer mitten in der Nacht gründlich zu kontrollieren ist für die Polizisten spaßiger als nichtstun. Zumindest für die Polizisten. Nach Abschluss der Aktion kann ich bleiben und Schlafen – aber schon 20 Minuten später kommt ein LKW-Fahrer an die Tankstelle und fängt augenscheinlich nachts um halb 4 an sein Fahrzeug hämmernd zu reparieren. Ich habe genug. Ohne geschlafen zu haben ziehe ich weiter – zumindest bis in den nächsten Ort. Hier versuche ich auf einem Spielplatz nochmal mein Glück und breite meinen Schlafsack aus. Immerhin finde ich hier 2.5 Stunden Schlaf.
Total Time in Race: 4d 04h 05min, Total km: 1.863 Total Elevation: 23.719m
Stretch 5: 06.09.19 03:30 Uhr – 07.09.19 02:00 Uhr (405 km, 3.708 Höhenmeter)
Gerädert von der wenig erholsamen Nacht mache ich mich gegen 5.30 Uhr dann wieder auf den Weg Richtung Sevilla – ich ahne schon: Das wird kein Spaß. Der Weg rein nach Sevilla führt mich über einen Radweg mit furchtbar holprigem Belag, in der Stadt angekommen verfahre ich mich einige Male und der Berufsverkehr zur Rushhour morgens zwischen 8 und 9 Uhr kostet mir neben viel Zeit an Ampel vor allem eines: Nerven und Kraft.
Wie sich herausstellen wird sind das nur die Vorboten eines wirklich harten Tages: Der Abschnitt von Sevilla an Huelva vorbei Richtung portugiesischer Grenze wird für mich zur mentalen Zerreißprobe. Endlose, schnurgerade, topfebene Straßen. Links und rechts nichts als staubtrockenes, dürres Land. Öde. Langweilig. Ich kämpfe gegen die Müdigkeit und gegen die Hitze – und die endlosen Geraden scheinen einfach kein Ende nehmen zu wollen. Ich will nicht weiter fahren, ich könnte alle 10 Minuten anhalten, dasitzten, schauen, schlafen, was auch immer – Hauptsache nicht mehr fahren. Analytisch betrachtet ist mir aber klar: Das bringt auch nichts – ich muss dieses Stück hinter mich bringen.
Es ist mehr als eine Erlösung, als ich gegen 15.00 Uhr auf der spanischen Seite der Grenze in Ayamonte ankomme und mir ein Ticket für die Fähre um 15.30 Uhr kaufe. Es bleiben noch ein paar Minuten Zeit um mir eine kühle Dose Fanta und 2 Kugeln Eis im Becher mit auf die Fähre zu nehmen – so wird die Überfahrt nach Portugal zum Genuss!
Mein nächstes Ziel ist jetzt der Checkpoint 6 in Albufeira – die knapp 100 Kilometer bewältige ich auch noch bis zum Abend. Auch mental geht es jetzt wieder bergauf – die Motivation kehrt zurück. Um 19.50 Uhr erreiche ich den Kontrollpunkt – direkt an der Strandpromenade, mitten im Getümmel eines Fischerfestes, das an diesem wundervoll lauen Freitagabend in Albufeira die Menschenmassen in das kleine Küstenstädtchen zieht. Hier genieße ich in Ruhe mein Abendessen beim Sonnenuntergang und fasse den Plan: Weiterfahren bis die Augen zufallen.
Gestärkt geht es in die Nacht hinein und geradewegs Richtung Norden – hier wird es schnell wieder bergig und im Nu bin ich wieder auf über 500 Metern über dem Meer. Meinen ersten, präferierten Schlafplatz in Almodovar habe ich direkt wieder verlassen – hier steigt an diesem Wochenende ein Musikfestival. Nach der letzten Nacht sehne ich mich mehr denn je nach Ruhe und fahre noch weiter bist Castro Verde. Hier finde ich nachts um 2 Uhr nach nunmehr 5d 03h 55min im Rennen und 2.268km an einem Sportplatz ein gutes Plätzchen um meinen Schlafsack auszurollen. Mit Blick in den Sternenhimmel verabschiede ich mich wenige Minuten später ins Land der Träume.
Total Time in Race: 5d 03h 55min, Total km: 2.268km Total Elevation: 27.427hm
Stretch 6: 07.09.19 05:00 Uhr – 08.09.19 02:00 Uhr (437 km, 4.041 Höhenmeter)
Auch hier endet meine Nacht nach 3 Stunden Schlaf schon wieder und weiter geht es durch Portugal – vom Süden geradewegs Richtung Norden zum Monte Farinha. Bis zum Abendessen will ich in Coimbra sein – und auch dieses Ziel wird sich wieder als mächtige Herausforderung entpuppen. Wundervolle Landschaften prägen Portugal – aber eben auch die zahllosen, kleinen Anstiege. Immer wieder geht es 100 Höhenmeter hoch, 100 Höhenmeter runter. Den ganzen Tag – und das schlaucht zusammen mit den Temperaturen, die auch an diesem Tag wieder auf über 35 Grad klettern. 70 Kilometer vor Coimbra dann ein echtes Highlight: Ein Dotwatcher, der selbst auch die Transpyrenees gefahren ist, gesellt sich auf dem Rad zu mir und begleitet mich einige Kilometer – eine willkommene Abwechslung und nette Unterhaltung. Nach dem Abendessen und Vorräte auffüllen in Coimbra geht es hinein in die nächste Nacht – und weiter Richtung Norden.
Während ich immer die IC2 in Portugal entlang fahre hält mich irgendwann ein Schild am Straßenrand auf: Für Fahrräder gesperrt. Fail. Fehlplanung auf dem Garmin. Das heißt anhalten, am Garmin und am Handy neu planen – und das wird kein Spaß. Der Umweg geht durch die Berge – mindestens 500-800 Höhenmeter on top um die Straße zu meiden. Nach 2 Stunden auf winzigen, bergigen, schlecht asphaltierten Straßen resigniere ich frustriert und entschließe mich zur IC2 zurückzukehren. Mitten in der Nacht ist hier kaum Verkehr – im Zweifel werde ich es trotz Verbots wagen und die Straße nehmen. An der Auffahrt angekommen Verwunderung: Kein Fahrräder-Verboten-Schild. What?
Wie ich später erfahren werde: Die Schilder stehen an machen Auffahrten, an manchen nicht. Wenn man sich einmal auf der Straße befindet wird man als Radfahrer nicht abgeleitet – keiner kann nachvollziehen wo man aufgefahren ist – man kann die Straße also durchweg nutzen. Heißt für mich: Der Zeitverlust war für die Katz. Bis Oliveira de Azeméis fahre ich noch und lege mich hier dann wieder in einem Park in meinen Schlafsack – ein paar Stunden Ruhe finden und Kraft tanken für den nächsten Stretch bis zum Monte Farinha.
Total Time in Race: 6d 05h 15min, Total km: 2.705km Total Elevation: 31.468 hm
Stretch 7: 08.09.19 05:30 Uhr – 09.09.19 11:30 Uhr (409 km, 6.215 Höhenmeter)
Nach wieder knapp 3.5 Stunden Pause geht es weiter durch die bergige Landschaft – und obwohl die Berge kaum höher als 500m sind werden die Abfahrten in der morgendlichen Kälte zur Tortur. Um 8 Uhr finde ich in einem kleinen Dorf eine Bäckerei – ich muss nicht lange überlegen um hier einzukehren und mich bei einem Kaffee zu wärmen. Allerlei frisch gebackene Leckereien erhöhen den Spaß zu beobachten, wie verwundert die Bedienung schaut, wenn ein einzelner Radfahrer morgens um 8 gleich zwei große Empanadas und vier Pasteis de Nata vor Ort verdrückt plus selbe Menge noch einmal mitnimmt.
Der Weg zum Farinha wird vor allem eines werden: Windig. Im schönen Douro-Tal bläst der Wind direkt von vorn – ein harter Abschnitt. Und so geht es nonstop weiter – wahlweise Gegenwind oder Berge. Mittags gegen 13 Uhr bin ich endlich am Fuße des Monte Farinha, stärke mich kurz in einem Café, lade Teile meines Gepäcks für den Aufstieg ab und hänge meine Powerbanks an den Strom. Dann geht es mit richtig Druck am Pedal auf den Gipfel – 13:40 Uhr erreiche ich den Checkpoint und gönne mir auch hier nochmal einige Minuten um die Aussicht zu genießen.
Hier startet dann ein Streckenabschnitt Richtung spanischer Grenze und Richtung Picos de Europa, den ich Ende Juli bei einer längeren Tour schon einmal komplett gefahren bin. Ich weiß, dass hier sehr langgezogene Anstiege in kaum besiedelten Gebieten auf mich warten. Den ersten Teil bewältigte ich noch im Tageslicht. An der Grenze von Portugal zu Spanien setzt dann die Dämmerung ein und ich muss auch die Passage wieder in der Nacht nehmen. Schon während meiner Testfahrt war ich hier nachts unterwegs – in den Abfahrten kreuzten immer wieder Rehe die Straße. Entsprechend Respekt habe ich mit Blick auf die kommende Nacht. Vielleicht ist es eine Portion zu viel Respekt, vielleicht ist es Angst. Ich überlege viel, wo ich in dieser Nacht campieren kann. Ich will nicht bis ganz hoch in die Berge auf 1.300 Meter fahren – wahrscheinlich ist es hier zu kalt. Die 80 Kilometer lange Abfahrt nach Benavente will ich im Dunklen auch nicht nochmal nehmen. So entschließe ich mich schon um 23 Uhr zu pausieren und den Rest des Anstieges bis zum höchsten Punkt dann in den Stunden vor der Dämmerung in Angriff zu nehmen.
Nach einigen Stunden im Schlafsack auf einem Spielplatz in einem kleinen Dorf an der N-525 steige ich wieder auf mein Cannondale und nehme die restlichen 40 Kilometer Anstieg in der Sierra de Sanabria unter die Räder. Vom höchsten Punkt auf knapp über 1.300 Metern Höhe geht es dann für etwa 80 Kilometer kontinuierlich mit 1-2% Gefälle hinunter Richtung Benavente – eigentlich eine Abfahrt, in der man richtig Tempo machen kann. Die Temperaturen um den Gefrierpunkt bringen mich in den frühen Morgenstunden jedoch an meine Belastungsgrenze – und darüber hinaus. Bereits nach wenigen Kilometern musste ich im 5-Häuser-Dorf Requejo de Sanabria anhalten und mich in einem Café aufwärmen. Ich warte hier eine Stunde bis die Sonne über den Horizont – in der Hoffung, durch die Sonnenstrahlen mindestens etwas gewärmt zu werden.
Im weiteren Verlauf der Abfahrt setzen dann Schmerzen im linken Bein ein (nicht dem, das vom Unfall malträtiert war und mittlerweile wieder ok war). Direkt oberhalb vom Knie, am Ansatz des Oberschenkelmuskels, quält mich plötzlich ein stechender Schmerz. Bei jeder Kurbelumdrehung. Es treibt mir die Tränen in die Augen. Die Schmerzen werden schlimmer und schlimmer. Immer wieder muss ich anhalten. Die verbleibenden 30 Kilometer bis Benavente pedalierte ich zuweilen mit nur einem Bein, durchweg aber im Schneckentempo.
Ich entscheide mich schweren Herzens für eine Pause. Es bleibt mir keine andere Option als in Benavente eine Zwangspause einzulegen: Kinesiotape besorgen, Medikamente kaufen und das Bein mindestens 12 Stunden regenerieren lassen. Jetzt weiterfahren wäre nichts als eine unsägliche Qual – und vermutlich würde es die Probleme mit dem Bein auch nur verschlimmern. Ich quartierte mich in einem Hostel im Stadtzentrum ein und liege bereits am Nachmittag um 3 im Bett – jetzt wird geschlafen. Viel geschlafen.
Total Time in Race: 7d 13h 20min, Total km: 3.115km Total Elevation: 37.683hm
Stretch 8: 10.09.19 07:30 Uhr – 10.09.19 19:00 Uhr (202 km, 1.445 Höhenmeter)
Nach knapp 17.5 Stunden “Zwangspause“, Schlafen und Regeneration bin ich voll motiviert und will mit dem ersten Tageslicht wieder auf dem Rad starten. Ich bin sehr gespannt und voller Hoffnung: Wie wird es meinem linken Oberschenkel gehen?
Die ersten Meter auf dem Rad fühlen sich gut an. Nach 60 Minuten immer noch keine Beschwerden. Ich schöpfte neue Hoffnung – vielleicht sogar mit einem letzten großen Stretch den Checkpoint 8 und direkt in einem Rutsch das Ziel in Bilbao zu erreichen. Die Gedanken kreisen. Wie jedoch für ein Ultracycling-Abenteuer nicht anders zu erwarten: Höhen und Tiefen, Freud und Leid liegen meist sehr nah beieinander. Nach knapp 2 Stunden macht sich der Schmerz im Bein wieder bemerkbar, nach 3 Stunden fängt es an zu regnen. Zum Regen gesellt sich schließlich straffer Gegenwind.
Mit wieder zunehmenden Schmerzen im Bein, klatschnass und zunehmend frierend kämpfe ich mich gegen den Wind Richtung Norden – immer auf den Checkpoint 8, Caín de Valedon, zu. Der Wetterbericht hat auch keine guten Nachrichten für mich – in den Picos de Europa wird das Wetter noch schlechter. Mehr Regen. Mehr Kälte. Zweifel keimen in mir auf. Dafür bin ich nicht ausgerüstet, keine ausreichend warme Bekleidung, zu wenig trockene Bekleidung zum Wechseln. Was tun? Sport- oder Bekleidungsgeschäfte zum Einkaufen gibt es auf dem Weg nicht. Im Supermarkt kaufe ich mir Müllsäcke, die ich als zusätzliche, wasserdichte Schicht unter die Jacke ziehe. An einer Tankstelle kaufe ich mir graue Mechaniker-Handschuhe. Besser als nichts. Mit allem am Körper was ich habe ziehe ich weiter Richtung Picos. Weiter in die wettertechnische Hölle.
Ob mich die Schmerzen im Bein oder die Kälte und Nässe mehr quälen – irgendwann weiß ich es nicht einmal mehr. Mit Sicherheit habe ich selten im Leben so gelitten wie jetzt auf diesem Abschnitt. Mir ist jedoch klar: Bis nach Caín de Valedon muss ich im Überlebensmodus kommen – dort gibt es ein Hostel, dort muss ich die Nacht verbringen, mehr geht nicht. Unmöglich. Der Weg ist aber noch weit. Zwischen mir und dem Zwischenziel liegen noch etliche Höhenmetern. Und noch mehr Regen. Und noch mehr Kälte. Und eine Abfahrt von 1.300m auf 500m. Für die Abfahrt stelle ich mich auf noch mehr frieren ein – wenn auch ich nicht genau weiß, ob ich noch mehr frieren kann, als ich das ohnehin schon tue.
Gerade in die Abfahrt gestartet der nächste Tiefpunkt: Die Straße ist versperrt. Ein Erdrutsch stell sich mir auch noch in den Weg. Unfassbar. Zitternd, schlotternd, am Ende meiner Kräfte starre ich die Bauarbeiter, die gerade versuchen die Straße zu räumen, an. Sie deuten mir: Ich kann vorbei fahren. Ich rolle weiter.
Völlig unterkühlt, durchnässt und fertig mit der Welt komme ich kurz vor 19 Uhr in Caín de Valedon an. Ich betrete das Hotel, stottere irgendwas von „Habitation“ – der Wirt begreift, gibt mir ein Zimmer, ich nehme eine heiße Dusche – meine Lebensgeister kommen zurück. Eine warme Heizung an der ich meine Bekleidung trocknen kann – jetzt geht es wieder aufwärts.
Total Time in Race: 8d 20h 03min, Total km: 3.318km, Total Elevation: 39.128hm
Stretch 9 – 11.09.19 07:30 Uhr – 11.09.19 18:33 Uhr (269 km, 4.083 Höhenmeter)
Mit der Dämmerung starte ich in meinen – hoffentlich – letzten Stretch der Transibérica Richtung Bilbao. Es ist glücklicherweise trocken. Kein Regen mehr. Die ersten Kilometer aus dem Valedon-Tal heraus sind gespickt mit 20%-Rampen im Anstieg. Von 500m geht es auf 1.500m hinauf – innerhalb weniger Kilometer. Aus der kalten heraus direkt eine weitere Belastungsprobe für mein Bein.
Nachdem ich die letzten zwei „echten“ Pässe der Picos de Europa hinter mir gelassen habe, geht es die 26-Kilometer-Abfahrt hinunter nach Potes und weiter Richtung Atlantikküste. Der Küste folgend werde ich mir dann meinen Weg Richtung Bilbao bahnen. Die Schmerzen im Bein rücken an diesem letzten Tag in den Hintergrund – größer ist die Euphorie, es schaffen zu können, zum Abendessen in Bilbao ankommen zu können. Darauf richte ich alles aus, ich gebe alles, mache auf diesem letzten 11-Stunden-Strech nicht mehr als eine Stunde Pause und kämpfe mich mit einem Schnitt von über 27km/h Richtung Ziel.
15 Kilometer vor Bilbao meldet sich dann der Umwerfer meiner Shimano DI2 ab – der Akku ist leer. Wird Zeit, dass wir fertig werden. Mit reduzierten Gängen fahre ich auf dem kleinen Blatt weiter Richtung Bilbao, durch den Feierabendverkehr geradezu Richtung Guggenheim Museum.
Und dann, von einem Moment zum anderen, ist es nach 9d 20h und 33min einfach geschafft. Im Ziel angekommen. Das wars. Nach zahllosen Stunden, nach Höhen, nach Tiefen, nach schweren Krisen, nach tollen Highlights, nach allen Freuden, nach all dem Leid – es ist vollbracht.
Es wird noch eine Weile dauern, bis ich alle Erlebnisse verdaut habe, das geleistete wirklich begreifen kann. Trotz der mehr als 30 Stunden Zwangspausen an den letzten 3 Tagen habe ich im Ziel ziemlich genau 48 Stunden Vorsprung vor dem Zweit- und Drittplatzierten, die mit einer ebenso starken Leistung zwei Tage später im Abstand von 3 Minuten ins Ziel kommen werden. Mein eigenes Zeitziel habe ich damit verfehlt – bin aber schon jetzt motiviert, im nächsten Jahr bei ähnlichen Events auf ähnlicher Distanz wieder anzugreifen.
Keep rollin!
Total Time in Race: 9d 20h 33min, Total km: 3.587km, Total Elevation: 43.211hm